Vorwort biographisches Lexikon 2003

Aus DRAFD Wiki
Wechseln zu: Navigation, Suche

Vorwort von Prof. Dr. Stefan Doernberg

Eine unterbelichtete Front des antifaschistischen deutschen Widerstands

Seit 1945 und besonders auch im letzten Jahrzehnt sind recht viele Publikationen über die deutsche Widerstandsbewegung erschienen, die sich gegen das NS-Regime und seinen verbrecherischen Krieg richtete. Nach wie vor bleiben aber einige Abschnitte unterbelichtet. Dazu gehört das Wirken Deutscher in den Streitkräften der Antihitlerkoalition, einschließlich der französischen Résistance und der Partisanenverbände in den von der deutschen Wehrmacht okkupierten Ländern sowie in der weltweiten Bewegung »Freies Deutschland«. Die vorliegende Dokumentation soll dazu beitragen, eine gewisse Lücke in der Literatur über den deutschen antifaschistischen Widerstand zu schließen.

Viele Jahrzehnte lang hatten unterschiedliche Gründe dazu geführt, dass die Teilnahme von Deutschen an der letztlich von außen erfolgten Niederringung der faschistischen Aggressoren und ihres Regimes, die in furchtbarer Weise die Weiterexistenz der menschlichen Zivilisation bedrohten, ungenügend Beachtung fand. So rückte zunächst nach 1945 der innere Widerstand, der zweifellos mehr Mut und Opferbereitschaft erfordert hatte, in den Vordergrund. Dabei war der Blickwinkel in Ost und West von Anfang an recht unterschiedlich. In der Ostzone wurde vor allem jene Widerstandsbewegung, ob in der Illegalität oder in den Konzentrationslagern, hervorgehoben, deren Träger Kommunisten oder Sozialdemokraten waren. Dies geschah nicht nur deshalb, weil die Mitglieder dieser Parteien zweifellos die größten Opfer getragen hatten. Es sollte zugleich mit dem Gedenken an ihren gemeinsamen Kampf gegen das NS-Regime der Zusammenschluss der beiden Parteien als historische Notwendigkeit wie die Legitimität einer führenden Rolle der einheitlichen sozialistischen Partei im Nachkriegsdeutschland untermauert werden. In den Westzonen dauerte es insgesamt erheblich länger, bis der aktive Widerstand gegen das Hitlerregime und den von ihm und seinen Gönnern und Trägern entfesselten Krieg breitere Beachtung fand. Übermäßig wurde dann das mutige Attentat vom 20. Juli 1944 hervorgehoben, nicht zuletzt wohl auch deshalb, um das Gedenken an die Träger dieser Verschwörung gegen Hitler und nicht an andere Widerstandskämpfer zur Traditionslinie zu gestalten. Jahrzehnte lang wurden dagegen die Männer und Frauen, die aus bewusster Entscheidung den gerechten Kampf der Antihitlerkoalition unterstützten, als Landesverräter beschimpft. Das galt insbesondere für jene, die sich erst in der Kriegsgefangenschaft zum Kampf für den Sturz des NS-Regimes und ein demokratisches Deutschland bekannten. Besonders beschämend waren aber auch die Angriffe gegen Marlene Dietrich, die erst zehn Jahre nach ihrem Tod ihren Platz unter den Ehrenbürgern Berlins erhielt.

Auch aus diesen Gründen erwuchs dem Verband DRAFD die Aufgabe, mit reichlicher Verspätung und seinen bescheidenen Mitteln nachzuforschen, welcher Platz in der Widerstandsbewegung jenen gebührt, die sich an der »äußeren Front« des Kampfes zur Niederringung des Faschismus beteiligten, mit welchen Motiven und Zielen sie dies taten und welche Ergebnisse ihre Handlungen aufwiesen Daraus entstand zunächst 1995 die im Berliner Dietz Verlag erschienene Publikation »Im Bunde mit dem Feind. Deutsche auf alliierter Seite«. Das neue bibliographische Lexikon soll ein weiterer Beitrag sein, um eben diese noch immer unterbelichtete Front des deutschen Widerstandskampfes aufzuhellen. Leider fehlen viele notwendige archivarische und andere überzeugende Quellen. Die Mehrzahl der Zeitzeugen ist seit Jahren nicht mehr am Leben. Auf ihre authentischen Berichte konnte kaum zurück gegriffen werden. So bleiben die Forschungsergebnisse unvollständig. Zu Beginn des von Deutschland durch das NS-Regime entfesselten Zweiten Weltkriegs befanden sich Zehntausende, wahrscheinlich weit über 100 000 deutsche Staatsbürger als Emigranten in vielen europäischen und anderen Ländern. Manche hatten hier nicht nur Asyl, sondern auch eine neue Heimstatt gefunden. Doch viele strebten eine Rückkehr in ein vom Faschismus befreites Deutschland an. Gerade in den Jahren des Krieges hofften sie zunehmend darauf, dass dies durch ein Zusammenwirken des Freiheitskampfes der Völker der Antihitlerkoalition mit einer inneren Erhebung in Deutschland Wirklichkeit werden könnte. Die Realität bewies aber, dass nur die Armeen der Antihitlerkoalition den Frieden wiederherstellen und die menschliche Zivilisation vor dem drohenden Untergang retten konnten. Eben deshalb traten viele Deutsche als Freiwillige den Streitkräften jener Länder bei, in denen sie Asyl gefunden hatten. Andere wechselten die Front, schlossen sich den bewaffneten Widerstandsgruppen in Frankreich oder auf dem Balkan, auch in Griechenland, Italien und anderen Ländern an. Zu einem Schulterschluss mit den Völkern der Antihitlerkoalition bekannte sich auch die weltweite Bewegung »Freies Deutschland«. Sie wurde nicht zuletzt dadurch geprägt, dass sich in ihr politische Emigranten und andere Deutsche, die sich aus unterschiedlichen Gründen außerhalb ihrer Heimat befanden, darunter ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, zusammenschlossen.

Nach unseren Nachforschungen war die Zahl jener Deutschen, die an diesem Abschnitt des Widerstandskampfes mitwirkten, größer, als oftmals vermutet wird. Aber dennoch blieben das Ausmaß dieser besonderen Front und auch die Effektivität im Vergleich zu den Anstrengungen und Opfern der anderen Völker gering. Wir dürfen auch nie vergessen, dass der Widerstandskampf in Deutschland selbst, ja schon das heimliche Abhören »feindlicher« Sender, vom Verteilen von Flugblättern gar nicht zu sprechen, weitaus mehr Opfermut erforderte.

Nach durchaus unvollständigen und nicht exakt belegbaren Daten traten weit über fünfhundert Deutsche in die britischen Streitkräfte ein. Viele von ihnen nahmen als Soldaten an der Landung in Nordfrankreich sowie an den Kämpfen in den letzten Monaten des Krieges teil. Andere waren in der so genannten Heimatarmee. Einige sprangen mit dem Fallschirm über Deutschland ab oder nahmen an anderen Spezialaktionen teil. Zu Beginn des Krieges hatte man die Deutschen, auch wenn sie politische Emigranten waren, als »Ausländer eines Feindstaates« betrachtet. Gerade jüngere Männer kamen in Internierungslager, bevor ihnen erst später der Eintritt in die britischen Streitkräfte gestattet wurde. So ungerechtfertigt diese Behandlung jener war, die ja als Antifaschisten noch Großbritannien gekommen waren, wurde die Internierung doch von den meisten als eine kriegsbedingte Maßnahme betrachtet die letztlich auch auf das Schuldkonto jener kam, die den Raubkrieg mit dem Ziel, die Weltherrschaft zu erobern, entfesselt hatten. Bis heute wissen wir nicht, wie viele Deutsche in den britischen Streitkräften ihren bewusst gewollten Einsatz mit dem Leben bezahlt haben. In den Streitkräften der USA gab es dagegen weitaus weniger Deutsche, sieht man von jenen ab, die schon vor 1933 als Auswanderer in Nordamerika eingetroffen und die Staatsbürgerschaft der USA erhalten hatten. Sie wurden in die Streitkräfte wie andere Bürger eingezogen, auf Grund ihrer Sprachkenntnisse mitunter mit spezifischen Aufgaben betraut und wirkten nach 1945 auch in Funktionen in der Militärregierung in Deutschland. Die meisten kehrten in die Staaten zurück Nach unseren Nachforschungen gab es nur wenige politische Emigranten in der US-Armee, wobei sie dann meist in den Bereichen der psychologischen Kriegsführung oder an anderen spezifischen Aufgaben mitwirkten. In den sowjetischen Streitkräften nahmen an den Kriegshandlungen nach unserer Berechnung nicht mehr als einhundert ehemalige deutsche Staatsangehörige teil, fast ausschließlich politische Emigranten, die selbst oder als Angehörige ihrer Eltern in der Sowjetunion Asyl gefunden hatten. Die meisten wurden an der Front zu Offizieren berufen. Auch unter ihnen befanden sich einige, die im ersten Kriegsjahr interniert wurden, dann aber in den Reihen der Roten Armee in ihre Heimat zurückkehrten. Mit wenigen Ausnahmen waren sie in den Abteilungen für spezielle Frontpropaganda tätig, die durch Lautsprechersendungen, Flugblattabwürfe und andere Aktionen bemüht waren, die Angehörigen der Wehrmacht gegen das NS-Regime zu beeinflussen und zur Einstellung der Kampfhandlungen zumindest an ihrem Frontabschnitt zu bewegen.

Einen achtungsvollen Anteil an der Résistance, darunter in den bewaffneten Gruppen, die später in die Streitkräfte Frankreichs eingingen, hatten deutsche Antifaschisten. Es waren sowohl Emigranten, die zu Beginn des Krieges ebenfalls interniert wurden, darunter ehemalige Angehörige der Internationalen Brigaden in Spanien, als auch Angehörige der Wehrmacht, die zunächst desertierten und sich dann der Résistance angeschlossen hatten. Nicht zu vergessen sind jene Deutsche, die in Jugoslawien, Griechenland, Italien und einigen anderen von der Wehrmacht okkupierten Ländern zu den dortigen Partisaneneinheiten gestoßen waren.

Sie alle pflegten in ihren Ländern enge, wenn auch unterschiedliche Kontakte mit der Bewegung »Freies Deutschland«. Ihre Organisationen waren in fast allen Staaten der Antihitlerkoalition, auch in Mexiko und in der Schweiz als selbständige Gruppierungen in den Jahren des Krieges tätig, vor allem durch propagandistische Aktionen, zum Teil auch durch die Herausgabe eigener Publikationsorgane. Das erste Komitee »Freies Deutschland« entstand in Mexiko unter der Mitwirkung von Anna Seghers und mit tatkräftiger Unterstützung von Heinrich Mann.

Größere Bedeutung erhielt zweifellos das im Juli 1943 in Krasnogorsk, einem Vorort von Moskau, gegründete Nationalkomitee »Freies Deutschland«. Seine Entstehung wie auch seine ganze Tätigkeit beruhten auf der Zustimmung der sowjetischen Führung, die sich eine Unterstützung im Kampf zur Abwehr der deutschen Aggression erhoffte. Sie hatte nicht nur durch die Bereitstellung materieller Mittel erheblichen Einfluss auf das Nationalkomitee. Trotzdem blieb es eine Organisation des deutschen Widerstands, die ihre programmatischen Ziele und ihre Proklamationen und sonstigen Aufrufe in letztlich eigenständiger Verantwortung ausarbeitete. Zum Präsidenten des Nationalkomitees »Freies Deutschland« wurde auf einer gemeinsamen Versammlung von deutschen Kriegsgefangenen und einigen deutschen Emigranten der Dichter Erich Weinert gewählt. Vizepräsidenten waren General der Artillerie Walter v. Seydlitz, der zugleich auch Präsident des Bundes Deutscher Offiziere war, Leutnant Heinrich Graf v. Einsiedel, ein Urenkel Bismarcks, und der Soldat Max Einmendörfer. Beim Nationalkomitee gab es verschiedene Arbeitskreise, die auch Gedanken über die Zukunft Deutschlands entwarfen. Zu ihnen gehörte ein kirchlicher Arbeitskreis, in dem Pfarrer und Theologen unterschiedlicher Konfessionen mitwirkten. Durch das von ihm betriebene Radio »Freies Deutschland« wie seine Manifeste und Aufrufe, die als Flugblätter massenweise Ober den deutschen Stellungen abgeworfen wurden, übte das Nationalkomitee auch einen inhaltlichen Einfluss auf Organisationen in anderen Ländern aus, auch auf illegale Gruppen in Deutschland, die sich zum Teil selbst als Gruppen der Bewegung »Freies Deutschland« bezeichneten.

Die so genannte Frontorganisation, die mit Zustimmung der sowjetischen Behörden durch ihre Aktionen unmittelbar auf die Wehrmacht einwirken konnte, zahlte insgesamt etwa 4 000 Mitglieder. Sie tat es vorwiegend durch Propagandaarbeit. Eine so genannte Seydlitz-Armee gab es nie, obwohl die Mär über ihre Existenz noch heute in manchen unseriösen Publikationen geistert. Die vom Nationalkomitee geleitete Organisation zeichnete sich noch mehr als andere Gruppen durch ihre pluralistische Zusammensetzung aus. An der Abfassung aller grundsätzlichen Dokumente wie auch der unmittelbaren Aufklärungstätigkeit nahmen sowohl Emigranten wie kriegsgefangene Soldaten, Offiziere und Generale teil, die aus allen sozialen Schichten des deutschen Volkes stammten, in den Jahren der Weimarer Republik zu praktisch allen Parteien gehört hatten und auch weiterhin ein breites Spektrum der politischen Auffassungen vertraten. Das war für die deutsche antifaschistische Widerstandsbewegung einmalig. Trotzdem blieb ihr der erwünschte Erfolg versagt, wenn auch die weltweite Bewegung »Freies Deutschland« einen besonders großen Beitrag zum deutschen Widerstand leistete. Die tiefe nationale Katastrophe, in die das Hitlerregime Deutschland stürzte, konnte nicht verhindert werden. Die Befreiung vom faschistischen Joch blieb die Großtat der Alliierten der Antihitlerkoalition, an der die Völker der Sowjetunion und ihre Armee einen ganz besonders großen Anteil hatten.